(K)eine Frage der Herkunft

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Kinder aus Akademikerfamilien, also in denen mindestens ein Elternteil einen akademischen Abschluss besitzt, beginnen fast dreimal häufiger ein Studium an einer deutschen Hochschule als Kinder von Nicht-Akademikern, sogenannte „Arbeiterkinder“.

Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) aus dem Jahr 2018, die die Chancen von 100 Kindern aus Akademikerfamilien, denen von 100 Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien gegenüberstellt. Die Ergebnisse zeigen, dass 79 von 100 Kindern mit akademischem Hintergrund ein Hochschulstudium beginnen. Bei den Kindern von Nicht-AkademikerInnen sind es leidglich 27 von 100, die den Sprung an die Hochschule schaffen.[1]

Es besteht also ein Zusammenhang zwischen dem Zugang zu Hochschulbildung und dem Bildungshintergrund der Eltern: Bildung ist in Deutschland nach wie vor eine Frage der sozialen Herkunft.

Was dies in der Praxis bedeutet, schildert Nina von der Initiative ArbeiterKind.de. Nina  studiert seit 2019 Lehramt an der Universität Trier und ist ein Arbeiterkind.

Sie sagt, der Wunsch zu studieren sei bei ihr schon immer da gewesen. „Aber die Welt der Universität war für mich damals so fremd“. Sie fühlte sich für ein Studium zunächst nicht ausreichend vorbereitet, denn in Ninas Familie hat niemand studiert, geschweige denn das Abitur gemacht. Ihr „bildungsferner Hintergrund“ begleite sie schon ihr Leben lang, erzählt sie. Sie ist über den dritten Bildungsweg an die Hochschule gelangt – ohne Abitur, dafür aber mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung im pharmazeutischen Bereich.

Vor der Aufnahme ihres Studiums war sie mit Fragen konfrontiert, wie: „Welche Zugänge an die Uni gibt es ohne Abitur?“ oder „Wie schreibe ich mich überhaupt ein?“. Ihre Großeltern haben sie zwar in dem Wunsch, zu studieren, immer unterstützt. Wirklich weiterhelfen konnten sie ihr allerdings nicht. „Bei uns galt eher das Motto: Schuster bleib bei deinen Leisten“, beschreibt die junge Frau rückblickend. Andere in ihrer Familie blickten eher skeptisch auf Ninas Wunsch, ein Studium aufzunehmen. Vor allem der lange Verdienstfall wurde vielfach kritisiert. „Ich musste mir den Weg an die Uni hart erkämpfen“.

Nina erklärt, dass viele Studierende ohne akademischen Hintergrund mit Vorurteilen aus der Familie zu kämpfen hätten. Von Aussagen wie „Das ist ja gar keine richtige Arbeit“ oder „So anstrengend kann das ganze Lesen doch gar nicht sein“, berichten Betroffene, die sich an die Initiative wenden. Manche Eltern könnten mit dem Studiengang nichts anfangen. Nicht selten kommt dann die Frage: „Was willst du damit überhaupt machen?“.

Nina erzählt auch von Arbeiterkindern, deren Eltern ihr Studium „regelrecht boykottieren“. Ohne Unterstützung von Hause laste oft ein enormer Druck auf den Studierenden.

Zu dem psychisch-emotionalen Druck kommen Herausforderungen in der finanziellen Bewältigung eines Studiums: Semesterbeitrag, Lernmaterialien wie Laptop und Bücher, Umzugskosten et cetera. Ein Studium kann ziemlich teuer werden, vor allem in Zeiten von Corona.

Die Ergebnisse der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks[2] zeigen auf, dass der größte Teil der Studierenden finanzielle Unterstützung von den Eltern erhält. Die finanzielle Situation im Studium ist aber auch hier wieder abhängig von der Bildungsherkunft.

Einige von Ninas Kommilitonen genießen den Vorteil, dass Wohnung und Studium von den Eltern bezahlt werden. Sie selbst finanziert ihr Studium durch ihren Nebenjob und mit der Unterstützung durch ein Stipendium. Für viele, die sich an ArbeiterKind.de wenden, ist eine finanzielle Unterstützung durch das Elternhaus nicht gegeben. Die meisten müssen neben dem Studium arbeiten und auch BAföG spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Einmal hat Nina einen jungen Mann kennengelernt, der 20-25 Stunden in der Woche neben seinem Vollzeitstudium arbeitet. „Da kannst du dir vorstellen, wie übernächtigt der manchmal in der Uni gesessen hat“, schildert sie.

Gleichzeitig sind ein Antrag auf BAföG oder die Bewerbung für ein Stipendium mit Zeit und Mühe verbunden – das weiß jeder, der sich schon einmal durch das Prozedere gekämpft hat. Viele sind durch BAföG und Co. an die Regelstudienzeit gebunden. Länger zu studieren kann sich nicht jeder leisten, auch, weil es von zu Hause Druck gibt. „Kind, du musst jetzt mal fertig werden!“ oder „Wann willst du denn endlich mal mit der Arbeit anfangen?“ sind Sätze, die Nina und ihre KollegInnen immer wieder begegnen.

Die angehende Lehramtsstudentin klärt auf, wie begrenzte finanzielle Mittel zu Schwierigkeiten in der Gesundheitsversorgung führen können. Spätestens mit der Vollendung des 25. Lebensjahres ist eine Familienversicherung in der Krankenkasse nicht mehr möglich und Studierende müssen sich selbst versichern. Das sind knapp hundert Euro Mehrkosten im Monat.[3] „Viele wissen nicht, wie lange sie das noch durchhalten“, beschreibt sie.

Vielen Arbeiterkindern ist gemein, dass sie sich im Studium als Außenseiter fühlen. Nina teilt die Geschichte eines Studierenden bei einem offenen Treffen: „Der junge Mann erzählte mir, dass er mit Kommilitonen in der Bibliothek war. Die haben dann für ihre wissenschaftlichen Arbeiten die Doktorarbeiten ihrer Väter und Mütter herausgesucht, während er nur danebenstand und belächelt wurde“.

Warum junge Menschen aus Nicht-Akademikerfamilien sich dann gegen ein Studium entscheiden oder ihr Studium abbrechen, hängt nach Ninas Erfahrung mit drei Faktoren zusammen: Das Defizit an Informationen, die Angst vor dem Studium und vor allem fehlende Vorbilder. „Nicht jeder hat die Kraft und die Ressourcen, sich das alles selbst anzueignen“, beklagt sie.

Diese Zielgruppe nimmt die Initiative ArbeiterKind.de in den Blick. Die Organisation motiviert  Menschen aus Nicht-Akademikerfamilien zum Beginn eines Hochschulstudiums und fördert diese auf ihrem Weg zu einem erfolgreichen Bildungsabschluss – bis zu ihrem Berufseinstieg. In bundesweit 80 lokalen Gruppen engagieren sich etwa 6.000 Ehrenamtliche, die häufig selbst AkademikerInnen der ersten Generation sind und ihre Erfahrungen weitergeben,[4] so auch Nina.

2019 hat sie selbst den Stand von ArbeiterKind.de auf dem Markt der Möglichkeiten an der Universität Trier gesucht, um Antworten zu erhalten, die ihr ihre Familie damals nicht geben konnten. Heute gibt sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen an andere weiter. Über die Website www.arbeiterkind.de können sich Betroffene im Netzwerk anmelden und dort Fragen rund um das Studium stellen. Sie bekommen Hilfestellungen, zum Beispiel bei Fragen zur Finanzierung des Studiums, bei der Einschreibung oder bei der Wohnungssuche. „Manche bitten auch einfach nur darum, dass man ihnen den Campus zeigt“, erklärt die Ehrenamtliche. Die Ortsgruppen organisieren außerdem einmal im Monat offene Treffen, aktuell leider nur über Zoom. ArbeiterKind.de bietet Workshops an, zu Themen wie Zeitmanagement im Studium. Gerne können sich auch Eltern von (angehenden) Studierenden Ratschläge und Hilfestellungen beim Info Telefon der Initiative einholen. MentorInnen erklären sich bereit, Patenschaften für Studierende einzugehen, um diese auf dem Weg und im Studium zu begleiten. Alle Angebote sind dabei kostenlos. Mittlerweile hat ArbeiterKind.de sogar einen eigenen Podcast.

Als angehende Lehrerin findet Nina, in Deutschland müsse mehr gegen Bildungsungerechtigkeit getan werden. „Ich denke, dass durch die Selektion häufig großes Potenzial verloren geht“.

Selektionsprozesse fangen aber schon viel früher an. Die Untersuchung der DZHW fasst zusammen: „[…]angefangen beim Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe, finden Selektionsprozesse auf Basis der sozialen Herkunft statt. Beim Übergang der Studienberechtigten in die Hochschule kommt es trotz der schon stark selektierten und vorgefilterten Gruppe erneut zu Ungleichheiten. Die eigentlichen Probleme beginnen also schon früher im Schulsystem und werden an dieser Schwelle lediglich verstärkt“.[5]

ArbeiterKind.de setzt sich für Chancengerechtigkeit ein. Dabei gehe es nicht darum, mehr AkademikerInnen zu produzieren, sondern den Zugang für Menschen ohne akademischen Hintergrund zu erleichtern. Die Organisation beginnt ihre Arbeit deshalb bereits an Schulen, wo Ehrenamtliche Vorträge halten. „Da muss viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. Da muss man die Eltern schon früh mit ins Boot nehmen, durch Informationsveranstaltungen, damit Vorurteile abgebaut werden und damit sich auch Lehrer des Problems bewusstwerden“, bekräftigt Nina. Sie erzählt  fassungslos, wie die Lehrerin  einer Schule einmal behauptete: „Bei uns gibt es keine Arbeiterkinder“.

Manche hätten Glück  und schaffen es, trotz erschwerter Bedingungen, aus „eigenem Antrieb“ ihre Bildungsziele zu erreichen. Anderen fehle der Bildungsdruck von zu Hause – obwohl das Potenzial da wäre.

Ninas Motivation für ihr Engagement ist, anderen bei den Herausforderungen zu helfen, vor denen sie 2019 als Arbeiterkind selbst stand. Sie möchte, wenn auch nur einen kleinen Teil, zur Chancengerechtigkeit beitragen.

Ende 2019 wurde die ArbeiterKind Gruppe in Trier neu ins Lebens gerufen. Sie starteten mit zwei Ehrenamtlichen, mittlerweile sind sie zu zwölft. Jeden ersten Donnerstag im Monat findet um 18.30 Uhr ein Zoom Treffen statt, zu dem jede/r Interessierte herzlich eingeladen ist.[6] Wenn sich die Corona Situation wieder entspannt hat, wollen sie auch wieder Vorträge an Schulen halten.

Am Ende des Gespräch betont Nina, dass Deutschland, vor allem mit Blick auf ihren Bildungsauftrag als angehende Lehrerin, beim Thema Bildungschancen noch einiges nachzuholen hat. Denn (Hochschul-)Bildung sollte und darf keine Frage der sozialen Herkunft sein.


[1]  https://www.dzhw.eu/pdf/pub_brief/dzhw_brief_03_2018.pdf

[2] https://www.studentenwerke.de/sites/default/files/se21_hauptbericht.pdf

[3] https://www.experten.de/2020/12/11/wie-koennen-sich-studierende-krankenversichern/

[4] www.arbeiterkind.de

[5] https://www.dzhw.eu/pdf/pub_brief/dzhw_brief_03_2018.pdf

[6] trier@arbeiterkind.de

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