Jung und krank: Merle gegen den Rest der Welt

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In der Reihe “Jung und..” trifft Leonie junge Menschen, die durch besondere Lebenssituationen oder Einstellungen auffallen.

Als sich die Studierenden durch den Ausgang des Hörsaals der Hafencity-Universität in Hamburg schieben, bleibt Merle zurück. Die immer noch kurzen, lockigen Haare liegen auf dem dicken Schal, den die 20-Jährige fest um ihren Hals geschlungen hat. Ihren Wintermantel trägt sie, obwohl die klare Wintersonne durch die großen Fenster des modernen Gebäude scheint.

Foto: Privat

Begrüßungen, das hat Merle vor diesem Treffen erzählt, seien für die besonders unangenehm. Umarmungen fallen heute Morgen aus: zu viel Körperkontakt. Zu groß ist die Gefahr, sich anzustecken, besonders im Winter. Stattdessen bemüht sie ein Lächeln. „Im ersten Jahr musste ich sogar beim Händeschütteln aufpassen“, erzählt sie später.

Der Tag, mit dem sich alles änderte, ist fünf Jahre her, damals war Merle 15. Beim Treppenlaufen bekommt sie plötzlich keine Luft mehr. Morgens hat sie noch an einem Mathe- Wettbewerb teilgenommen, abends kommt die Diagnose: Merles Herzmuskel ist stark entzündet, er besitzt nur noch zehn Prozent seiner ursprünglichen Schlagkraft. Sie braucht ein neues Herz, und zwar ziemlich schnell. Sie hat Glück: Nach nur zwei Wochen bekommt Merle ein Spenderherz. Sie geht wieder zur Schule, macht ihr Abi. Sie will Ingenieurin werden, das Baugewerbe stößt ihrer Meinung nach zu viele Schadstoffe aus.

Doch kurz nach dem Abschluss schwitzt sie plötzlich stark beim Schlafen, bekommt Fieber, das immer weiter steigt. Die nächste Diagnose: Sie hat ein Posttransplantationslymphom. Krebs. Sie ist 18 Jahre alt und muss sich einer hochdosierten Chemotherapie aussetzen. Merle verliert ihre langen Haare, kann ihr Studium nicht wie geplant im Sommer beginnen. „Das war der Moment, wo ich dachte: Was hab ich falsch gemacht, dass es genau mich doppelt trifft?“, sagt sie heute.

Wenn Merle von ihrer Krankheit erzählt, tut sie das mit Übung. Sie wurde schon oft interviewt, hat an einer Kampagne für den Organspendeausweis teilgenommen. Trotzdem senkt sie ihren Blick bei den Gedanken an den Tag der Diagnose, spricht schneller. Sie sitzt auf dem Bett in ihrem Zimmer, dreht die Kaffeetasse in ihren Händen. Merles Wohnheim, ein schicker Neubau in der Hafencity in Hamburg, ist nur eine Straße von der Uni entfernt. „Meine Mutter wollte mich eigentlich nicht so gerne gehen lassen“ erzählt sie. Doch jeden Tag in überfüllten Zügen zur Uni zu fahren wäre wohl auch keine Alternative, argumentiert sie dagegen. Sie gewinnt.

Durch die Medikamente, die sie seit ihrer Transplantation einnehmen muss, wird Merles Immunsystem unterdrückt, damit ihr eigener Körper das fremde Herz nicht abstößt. Die zusätzliche Belastung durch die Krebserkrankung führt dazu, dass jeder Kontakt mit Krankheitserregern, selbst solche, die für gesunde Menschen harmlos wären, für Merle lebensbedrohend sein kann. Aus einer Erkältung kann sich bei ihr leicht eine Lungenentzündung entwickeln. Letztes Jahr, geht sie einmal bei drei Grad joggen, erzählt sie. Danach war sie zwei Monate krank und durfte nicht in die Uni.

Nach dem Ende der Vorlesung stehen Merle und ihre Freundinnen noch einige Minuten beieinander. Als es schließlich zum Abschied über die Weihnachtsferien kommt, geht eine ihrer Freundinnen mit geweiteten Armen auf Merle zu. Sie erwidert sie die Umarmung innig. Das kommt nicht oft vor, nur zu besonderen Anlässen, erzählt sie später. Deswegen ist menschlicher Kontakt besonders wertvoll für sie. Jede soziale Interaktion, jede Berührung birgt unsichtbare Gefahren, doch manchmal geht Merle sie eben ein. „Ich hatte Krebs, eine Herztransplantation und im Januar noch einen Herzinfarkt, und ich lebe immer noch. Da habe ich manchmal schon fast ein Gefühl von Unbesiegbarkeit.“

Auf dem Weg in die Stadt legt sie ihr Gesicht gegen die Haltestange der Bahn. Sie lächelt. „Manchmal denke ich, wenn ich es sowieso immer wieder abkriege, ist vielleicht gar nicht wichtig, was ich mache.“ Vor dem Essen verschwindet sie dann doch für einige Minuten zum Waschbecken.

Vor einigen Wochen hat Merle sich dazu entschieden, die Fotos, die sich um ihre Krankheit drehen, von ihrem Instagram-Account zu löschen. „Ich denke grade viel darüber nach wie ich mein Leben gestalten will und was mich bewegt. Ich will mich darüber nicht länger komplett definieren“.

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