Tim Mossholder via Unsplash

Die unsichtbare Liste

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Lieber Freund,

vorhin bin ich zur Tür rein und wusste, als erstes schaue ich, ob du den Biomüll tatsächlich ausgeleert hast, so wie ich es dir aufgetragen habe.

Und für einen kurzen Moment war ich wirklich stolz auf dich, als ich reinkam, und gesehen habe, dass du den Biomüll runtergebracht hast. Dass in dem Biomüll keine neue Papiertüte war, regte mich erstmal gar nicht auf. Ich habe sie dann selber reingemacht.

Als dann aber dieses Grummeln in meinem Bauch immer lauter wird, fällt mir auf, dass auf mich noch nie, wirklich noch nie jemand stolz war, weil ich den Biomüll NACH Aufforderung ausgeleert habe, ohne danach eine neue Tüte reinzutun.

Also werde ich wütend, so unglaublich wütend. 

Dieser Biomüll löst gerade gedanklich in mir ein riesigen Gleichberechtigungsstreit zwischen uns aus und ich finde es kacke, dass ein Biomüll sowas hinkriegen kann. 

Denn sind wir gleichberechtigt, weil du die Spülmaschine ausräumst, nachdem ich dich drum gebeten habe?
Sind wir gleichberechtigt, weil du die Einkäufe besorgst, die ich aufgeschrieben habe?
Sind wir gleichberechtigt, weil du genauso oft den Müll runterbringst, aber immer mir auffällt, dass der Müll voll ist?

An dieser Stelle ein Dank an den Biomüll, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Meine Gedanken an Gleichberechtigung sind nun derart am Schreien, dass ich „wie nennt man das, wenn der Freund nur auf Ansage Aufgaben übernimmt und ich den gesamten Haushalt immer im Überblick habe“ gegoogelt habe.

Da sind sie auf einmal: diese zwei Wörter, die das beschreiben, was ich seit Jahren fühle.
Zwei Wörter für all die unsichtbaren Listen, die Scanner Blicke nach Krümeln, nach Staub, nach vergammelten Zitronen im Kühlschrank, die stillen Gedanken über das Abendessen und, ob die Bettwäsche nicht mal wieder einen Wechsel gebrauchen könnte.

Mental Load. 

Mental Load, die gedankliche, unsichtbare Last, an alles denken zu müssen. 

Während ich diese zwei Wörter lese, merke ich, wie sich mein Kopf schon ein bisschen leichter anfühlt, wie die erste Last von meinen Schultern fällt. Warum werden die Dinge auf einmal so viel klarer, wenn man einem Gefühl einen Namen geben kann? 

Jetzt kann ich mich vor dich stellen und dir sagen: wir sind nicht gleichberechtigt, weil Gleichberechtigung in einer Beziehung nicht heißt: eine denkt, eine schlägt vor,
eine stößt an, eine trägt auf und einer nickt, einer stimmt zu, einer sagt, er ist dabei. 

Es reicht nicht, Aufgaben einzuteilen. Nein, wir müssen auch die Gedanken dazu aufteilen. 

Eine Studie aus Amerika hat zum Beispiel gezeigt, dass 88 Prozent der 393 befragten Frauen die Zeitpläne für die Familie alleine organisieren und die Zuweisung von Aufgaben, die für den reibungslosen Ablauf des Haushalts erforderlich sind, übernehmen.
Die unsichtbaren Listen haben also vor allem wir Frauen im Kopf.

Als wir dann darüber geredet haben, warst du warst du so verdammt verständnisvoll, dass es mich irgendwie aufgeregt hat. Weil du so Sachen gesagt hast, wie: „ja ich kann total verstehen, was du meinst“ und: „ja, da müssen wir wirklich dran arbeiten“. Weil nein, ganz ehrlich, du kannst das nicht genau verstehen und ja ganz ehrlich, das ist genau das, was ich sage. 

Es ist verdammt anstrengend diese Listen im Kopf zu haben und gleichzeitig der Part in der Beziehung zu sein, der darüber nachdenkt, wie man diese Listen aufteilen kann. Das ist dann quasi ein weiterer Punkt auf der mentalen Liste und das fühlt sich irgendwie nach einer semi-beschissenen Lösung an.

Was ich möchte ist, dass du dich alleine für zwei Tage irgendwo hinsetzt und dich durch sämtliche Foren über dieses Thema forstest, Frauen interviewst, deine Kumpels mit einweihst, dir den Kopf so sehr darüber zerbrichst, dass du schlaflose Nächte hast und nicht wieder einfach nur Ja sagst zu dem, was ich gedacht habe. 

Und, mein lieber Freund, wir müssen uns gemeinsam selber hinterfragen.
Hinterfragen, wieso mein Kopf zu viele Listen und deiner zu wenige erstellt.
Hinterfragen, wie wir das Unsichtbare sichtbar machen.
Hinterfragen, wie wir es hinbekommen, dass ich nie wieder ein Gefühl von Stolz empfinde, weil du den Biomüll halb ausgeleert hast. Jeden Tag aufs Neue.

Bist du dabei?

Wenn ihr mehr über Mental Load erfahren wollt, dann schaut mal auf dem Blog von Laura vorbei: https://heuteistmusik.de/category/mental-load/. Dort berichten vornehmlich Mütter von ihren Erfahrungen mit Mental Load, aber es geht auch darum, wie man zum Beispiel mit seinem/ seiner Partner*in über das Mental Load- Problem reden kann. 

Und auch bei Equal- Care- Day könnt ihr euch noch mehr über Mental Load informieren: https://equalcareday.de/mental-load/. Dort gibt es auch Selbsttests, bei denen ihr mit eurem/ eurer Partner*in gemeinsam rausfinden könnt, wie die Aufteilung der mentalen Last in eurer Partnerschaft aussieht.

Und wenn ihr etwas braucht, dass ihr eurem/ eurer Partner*in vorlegen könnt, wenn euch noch die Worte fehlen, um etwas Unsichtbares zu beschreiben: https://english.emmaclit.com/2017/05/20/you-shouldve-asked/ (Originalcomic, Englisch), https://krautreporter.de/1983-du-hattest-doch-bloss-fragen-mussen (Übersetzung, deutsche Version)

Erwähnte Studie:
Ciciolla, Lucia & Luthar, Suniya. (2019). Invisible Household Labor and Ramifications for Adjustment: Mothers as Captains of Households. Sex Roles. 81. 1-20. 10.1007/s11199-018-1001-x.

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