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Zwischen bester Freundin und schlimmstem Feind

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*** Triggerwarnung: In dem Text werden anorektische Gedanken beschrieben ***

Sie weiß, was das Beste für mich ist.

Sie kennt mich besser, als ich mich selber kenne.

Ich liebe sie, vergöttere sie, bin ihr so dankbar.

Meine beste Freundin, sie sorgt sich so sehr um mich wie kein anderer. Sie zeigt mir, was mich als Menschen ausmacht, warum ich etwas Besonderes bin. Besser als alle anderen. Sie hat das Leben durchschaut, sie weiß, worauf es ankommt. Ich trage sie in mir, meine ständige Begleiterin. Ich vertraue ihr, mehr als allen anderen. Warum sollte sie mich anlügen? Sie ist so ehrlich. Sie belohnt mich, wenn ich es verdiene, bestraft mich, wenn ich es verdiene. Sie feuert mich an, ist mein größter Fan. Gibt mir die schönsten Glücksmomente. Stolz, Selbstliebe, Mut. 

Wenn ich nicht auf sie höre, wird sie sauer. Beleidigt mich. Sagt mir, ich habe kein Glück verdient. Ich halte ihre Wut nicht aus. Ich brauche sie, ich bin doch auf sie angewiesen. Ohne sie bin ich ein Niemand, nichts Besonderes, ein Feigling. Also höre ich auf sie. Mache, was sie mir vorschreibt. Denn auf sie kann ich vertrauen. Und sie verzeiht mir wieder. Lobt mich für meine Handlungen.

Andere sind neidisch, wollen mir alles nehmen. Wollen mir sie nehmen, meinen ganzen Stolz. Wollen zerstören, was ich schon alles erreicht habe. Sie sind neidisch, weil ich besser bin. Stärker, disziplinierter. Jeder will diszipliniert sein. Und ich bin es, weil sie bei mir ist. Wir sind ein Team, ich brauche nur sie. Ich fühle mich leicht, wie auf Wolken. Ich werde schwächer und kann mich kaum mehr bewegen. Aber das ist mir egal. Alles was zählt, ist, dass ich nicht aufhöre, dass ich Hand in Hand mit ihr kämpfe. Alles ist egal, es gibt nur uns beide.

Manchmal ist da Angst.

Dass ich nicht mehr aufwache, weil ich körperlich so schwach bin. Wenn die Schmerzen nicht auszuhalten sind, zweifle ich manchmal. Sitzen tut weh, zum Stehen fehlt die Kraft. Wieso lässt sie das zu? Ist es das wert? Haben die anderen vielleicht doch Recht?

Sie sagt, Schmerz ist ein Zeichen für Kampf, Anstrengung und Disziplin. Andere können das nicht so gut aushalten wie ich, andere würden einknicken. Mein Durchhaltevermögen macht mich bewundernswert. 

Irgendwann fühlt es sich nicht mehr so an. Ich kann ihr nicht mehr richtig glauben. Sie verhilft mir nicht zu Freiheit und Glück. Nein, sie sperrt mich ein, isoliert mich von außen, schirmt alle Rationalität von mir ab. Ich fühle mich klarer, willensstärker.  Ihr gefällt das nicht, aber das blende ich aus. Ich weiß, was ich will. Frei sein, glücklich sein. Das kann ich nur ohne sie. 

Sie akzeptiert das nicht, ich dränge ihre Zweifel weg. Sie bleibt hartnäckig, wird ausfällig, macht mich runter. Irgendwie hat sie ja doch Recht. Ich bin schwach, wie konnte ich nur so von meinem Weg abkommen? Und ich glaube ihr wieder, dankbar, dass sie mich davor gerettet hat, einen schrecklichen Fehler zu begehen. 

Aber warte, ein schrecklicher Fehler? Ein Schritt Richtung Freiheit? Ich bin geschockt, wie schnell sie mich wieder umreißen konnte. Ich will das doch eigentlich nicht mehr, oder?

Ich bekämpfe sie wieder, streite mit ihr. Sie soll mich endlich loslassen, mich in Ruhe lassen. Je leiser sie wird, desto klarer sehe ich, desto stärker und wohler fühle ich mich.

Vielleicht endet dieser Kampf nie, die ewigen Streitereien, das Hin und Her. Vielleicht gibt sie aber irgendwann endlich Frieden. Sie gehen zu lassen, ist schwer. Die ständige Begleiterin, zwischen bester Freundin und schlimmstem Feind.

In vielen Momenten wünsche ich mir die Freiheit zurück, die sie mir genommen hat. Ich befreie mich aus dem Gefängnis, in das sie mich gelockt hat. Ich kann sehen, dass ich das ganze Leben ausgeblendet habe, meine Welt bestand nur noch aus uns. Aber das genügt mir nicht mehr, wird mich niemals vollständig erfüllen. Und sie wird niemals zufrieden mit mir sein, ganz egal, wie sehr ich mich ihr hingebe. Am Anfang fühlt es sich so falsch an, gegen sie anzukämpfen. Sie wird immer lauter, immer aggressiver. Das auszuhalten, ist unglaublich schwierig. Aber irgendwann ist da der Punkt, an dem sich die Rollen tauschen. An dem ich in meine Kraft komme und sie zumindest für einen Moment verblasst. Der Punkt, an dem ich es schaffe, sie einzuschüchtern. Wenn sie zurückkommt, verscheuche ich sie, mache ihr deutlich, dass ich sie nicht bei mir haben möchte. 

Manchmal schaffe ich es nicht, fühle mich zu schwach und gebe ihr doch wieder Raum. Aber was sich von Mal zu Mal ändert, ist, dass ich jetzt weiß, dass ich die Stärke in mir habe. Dass ich lauter sein kann. 

Es ist an der Zeit, dem richtigen Weg zu folgen. Dem Weg Richtung Gesundheit, Glück und Lebensfreude. Dieser Weg dauert und es wird nicht immer gelingen, stark zu sein. Ich werde noch oft in Frage stellen, welche Entscheidung die Richtige ist. Ich werde noch oft denken, dass ich es nicht schaffen kann. Vielleicht komme ich irgendwann am Ziel an. Diesen Weg kann und möchte ich nicht alleine gehen, aber ganz gewiss ohne sie, ohne die Sucht.

Niemand muss diesen Weg alleine gehen.

In Deutschland leiden etwa 3-5% der Bevölkerung unter einer Essstörung. Etwa 0.7% leiden unter Magersucht. Etwa 0.7% kämpfen mit ihr, mit der Magersuchts-Stimme. Etwa 40% der Betroffenen einer Magersucht schaffen es aus der Krankheit, bei 15-20% endet die Anorexie tödlich. Je früher eine Behandlung beginnt, desto höher sind die Heilungschancen. 

Anzeichen von Essstörungen sind sehr ernst zu nehmen. 

Informationen und Hilfe gibt es unter anderem hier:

https://www.bzga-essstoerungen.de/

https://www.anad.de/essstoerungen/

Beitragsbild: John Tower via Unsplash

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