Toleriert, Akzeptiert, Gejagt: Über die Selbstverständlichkeit, homosexuell zu sein

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Stell dir vor, du stehst vor einer dunklen Gasse. Es ist spät abends, die wenigen Passanten, die vorbeikommen, schauen dich nicht an. Du bist auf dem Weg nach Hause. Würdest du einfach so losgehen, ohne groß darüber nachzudenken, oder würdest du zögern?

Die Wahrheit ist, deine Antwort wird zu großen Teilen davon abhängen, ob du ein Mann oder eine Frau bist, trans- oder cisgender, homo- oder heterosexuell, oder davon, in welchem Land du dich befindest. Auch Lukas denkt über so eine Frage inzwischen zweimal nach. Er ist zwanzig Jahre alt, Student, und seit zweieinhalb Jahren offen homosexuell, etwas, das in unserer Gesellschaft kein Problem mehr ist. Das dachte er zumindest. Bis er vor einem Jahr auf der Straße angegriffen wurde.

„Ich war im Urlaub mit Freunden, in Pula, Kroatien. Wir waren abends in einem Club, wo ich jemanden kennen gelernt habe. Wir haben miteinander geflirtet, und uns schließlich geküsst“, erzählt er. Eine Urlaubsromanze, die wir vielleicht alle schon so oder so ähnlich erlebt haben. Doch dann kippt die Stimmung. „Da kamen plötzlich zwei, drei Skinheads auf uns zu und haben angefangen, sich aufzuspielen“, erinnert sich Lukas. „Sie haben gesagt, wir sollten das lassen, das wäre ekelhaft.“

Die beiden sind im Urlaub, wollen ausspannen und Stress vermeiden. Also verlassen sie den Club und gehen ein paar Meter, bevor sie sich weiter unterhalten. Da kommen die Skinheads plötzlich zurück, mit Verstärkung.

„Mein Freund hat uns daraufhin verteidigt, und gefragt, ‚Was soll das, warum darf ich ihn nicht küssen, warum darf nicht jeder machen, was er will?‘ Kurz darauf lag er am Boden und hat Tritte abbekommen. Ich habe ihn hochgezogen und nur gesagt, ‚Komm, wir laufen jetzt.‘“

Und dann laufen die beiden los, sehen gerade noch aus dem Augenwinkel, wie zwei weitere Skinheads sich der Gruppe anschließen. Doch noch beim Laufen spürt Lukas Tritte im Rücken. Er kommt mit zwei blauen Flecken davon, sein Freund hat eine blutige Lippe und mehrere Schläge im Brustbereich abbekommen.

„Wir sind dann zu einer belebten Straße gerannt und haben ‚Policia, policia‘ gerufen. Aber keiner der Leute hat uns geholfen. Wahrscheinlich waren die selber eingeschüchtert von den inzwischen sieben Skinheads, die uns hinterhergelaufen sind.“

Als die Polizei nach einer Stunde auftaucht, sind die Verfolger schon verschwunden. Die Bilanz ist bitter: Keiner der Passanten im Club hat eingegriffen, und auch niemand auf der Straße, nur seine Freunde, die dabei waren. „Meine Freunde haben die Skinheads angeschrien und bespuckt, ein Mädchen hat sich sogar zwischen uns gestellt, weil sie Mädchen anscheinend weniger schlagen. Meistens zumindest. Zwei andere Leute vom Campingplatz wollten helfen, aber am Ende konnten sie doch nichts machen gegen sieben aggressive und betrunkene Skinheads.“

Lukas ist niemand, der sich schnell einschüchtern lässt, so viel ist klar. Er erzählt diese Geschichte nicht zum ersten Mal, und aus seiner Stimme hört man keine Angst heraus, sondern Wut. 

„Das waren einfach richtig kranke Leute. Ich würde mich deswegen nicht groß anders verhalten, aber wahrscheinlich würde ich, zumindest in Kroatien, niemanden mehr vor vielen Leuten küssen. Und in diesen Club bin ich auch nicht mehr gegangen, vielleicht wären sie wieder dagewesen und hätten uns erkannt.“  

Nach so einem Erlebnis dauert es lange, um sich wieder von dem Schock zu erholen. Aber wir reden hier von Kroatien. In Deutschland muss niemand mehr Angst haben. In Deutschland sind wir aufgeklärt, solidarisch, tolerant – und es ist inzwischen selbstverständlich, homosexuell zu sein. Oder?

„Ich glaube schon, dass so etwas auch in Deutschland passieren könnte“, sagt Lukas. „Vor allem, wenn man irgendwo ist, wo es viele extrem konservative Leute gibt, die vielleicht noch gerne trinken oder grundsätzlich gewaltbereit sind. Kroatien ist eigentlich kein Land, das homophob ist. Es gibt halt ein paar Idioten, wie in jedem Land.“

Fact Check: Obwohl es in Deutschland ein allgemeines Gleichbehandlungsgesetz gibt, ist der Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung nicht im Grundgesetz verankert. Wie die rechtliche Lage weltweit aussieht, zeigt diese Karte: 

Quelle: ilga.org [Zugriffsdatum: 06.07.2020, 10:10 Uhr]

Aber gerade beim Thema Solidarität und Aufklärung hat Deutschland auch große Fortschritte gemacht. „In dem Club in Kroatien hat sich niemand eingemischt. Ich glaube, in Deutschland würde da mehr drauf geschaut werden.“ Als Lukas sich, eineinhalb Jahre vor diesem Vorfall, geoutet hat, haben seine Freunde positiv reagiert. Seit dem 1. Oktober 2017 haben gleichgeschlechtliche Paare das Recht zur Eheschließung und zur Adoption. Deswegen kann Lukas heute sagen: „In Deutschland fühle ich mich nicht als diskriminierte Minderheit.“

Trotzdem hat er auch in Deutschland schon schlechte Erfahrungen gemacht. Auf einem bayerischen Volksfest ist er zum Beispiel von einem Betrunkenen mit „Bist du schwul, oder was?!“ angepöbelt worden. Nein, von Selbstverständlichkeit kann auch hier noch lange keine Rede sein. Deswegen ist gerade die Aufklärung über Homosexualität etwas, dass Lukas sehr am Herzen liegt.

„Solange es bei Kindern nicht selbstverständlich ist, ist es das auch für Erwachsene nicht. Solange ‚schwul‘ bei Kindern noch ein Schimpfwort ist, trauen sich viele von ihnen nicht, das Thema offen anzusprechen oder sich zu outen. Was deswegen wirklich wichtig ist: Mit kleinen Kindern, einfach mal mit den eigenen Geschwistern, darüber sprechen, um Normalität zu schaffen. Nur durch Normalität kommen wir zur vollkommenen Gleichberechtigung. Wir sind am Ziel, wenn wir zwischen sexuellen Orientierungen überhaupt keinen Unterschied mehr machen, wenn es nicht mehr selten oder komisch, sondern einfach kein Thema mehr ist. Wenn jeder einfach so sein darf, wie er oder sie möchte.“

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