Credit: Christopher Campell

Dein ganzes Leben lang

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Da ist es wieder, dieses Gefühl, dieser Moment. Tränen steigen dir in die Augen, dein Hals schnürt sich zu. Der Geruch nach frischen Nussecken, der seines Parfums, aus den Lautsprechern ertönt „sun goes down“ oder „see you again“, ein großer, schlanker Kerl mit schwarzem Lockenkopf, Brille und einer Fussballtasche, Linsensuppe, die im Regal im Supermarkt steht. Ein Kloß in deinem Hals, den du versuchst herunterzuschlucken, doch ohne Erfolg. 

Die Zeit dreht sich zurück, du bist wieder 16 Jahre alt. Es ist als ob du seit diesem Tag in einem Gefängnis sitzt. Ein Gefängnis aus Schmerz, Trauer, dem Wunsch ihn wiederzusehen. Du hast nichts verbrochen und trotzdem hast du lebenslänglich. 

„Kein Feilschen, kein Betteln, keine Wut.“

Das Gefängnis umgibt dich wie eine unsichtbare Mauer. An manchen Tagen sind die Mauern dick und undurchdringlich. Alles ist eine Qual – aufzustehen, die Augen zu öffnen, zu essen, zu sprechen. An anderen Tagen sind sie kaum erkennbar, es geht dir „gut“. Alles rutscht in den Hintergrund, doch es könnte dich jeden Moment treffen, die Erkenntnis, die dir die Luft zum Atmen nimmt und dich immer wieder fassungslos zurücklässt. 

Du wirst niemals darüber hinwegkommen, dass dein großer Bruder gestorben ist. Der Autounfall bleibt bis heute ungeklärt. Nichts was du tust oder denkst bringt ihn wieder zurück. 

Kein Feilschen, kein Betteln, keine Wut. 

„Man sagt, die Zeit heile alle Wunden. Dem stimme ich nicht zu. Die Wunden bleiben, mit der Zeit schützt die Seele den gesunden Verstand und bedeckt ihn mit Narbengewebe und der Schmerz lässt nach, aber er verschwindet nie.“ 

Rose Kennedy

Du wirst nie verstehen, dass der junge, lustige, ehrgeizige Mann, der aus ihm geworden ist, niemals wieder durch die Tür kommen wird. Dass du nie wieder seine Nussecken essen wirst, dass du sein Lächeln nur noch auf den Fotos sehen wirst. 

Du lernst wieder zu lächeln, auch wenn dir nicht danach zumute ist. 

Du lernst zu sagen, dass es dir gut geht, obwohl du nur schreien willst. 

Du lernst damit umzugehen, dass die Menschen die Straßenseite wechseln, Menschen die dich dein Leben lang kennen, weil sie nicht wissen, was sie sagen sollen und bevor sie etwas Falsches sagen, schweigen sie und meiden dich. 

Du musst akzeptieren, dass die Menschen nach wenigen Monaten und Jahren ihn vergessen, euch nicht mehr besuchen, nicht mehr über ihn sprechen, sein Jahresgedächtnis vergessen und etwas Besseres zu tun haben. 

Du merkst wie sie deine Trauer nach den Jahren nicht mehr sehen wollen. Du sollst darüber hinwegkommen. 

Doch wie?! 

Also setzt du ein falsches Lächeln auf und tust so, als ob es dir gut ginge, damit sie sich nicht unwohl fühlen. Du lebst dein Leben wie von Nebel umgeben, der dich von den anderen trennt.

Nach 6 Jahren solltest du ihrer Meinung nach, nach vorne schauen, denn dein Leben geht weiter, ob du willst oder nicht. 

Doch die 16 Jährige in dir, die ihren zwei Jahre älteren Bruder viel zu früh verloren hat, wird ihn immer vermissen und um ihn trauern. Er wird immer in deinem Herzen sein. Dein ganzes Leben lang. 

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