Endlich angekommen?

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Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, DGPPN, sind jährlich 17,8 Millionen Erwachsene von psychischen Erkrankungen betroffen. Das entspricht etwa der Zahl aller in Nordrhein-Westfalen lebender Menschen. Jeder und jede von ihnen hat eine eigene Geschichte.

Stiefel mit selbstgemachtem Blumenmuster, Leggings in Batikoptik und eine silberne Umhängetasche – Sabine mag es bunt. An einem Dienstagnachmittag im Januar plaudert sie mit ihren Kollegen; lautes Lachen hört man schon vor dem Haus Ebenezer in Bielefeld-Bethel. Normalerweise schleift und bemalt Sabine an einem der acht Arbeitsplätze Dinge, die später im Laden verkauft werden. „Im Moment ist Inventur“, sagt sie, „da gibt es nicht so viel zu tun. Ich unterhalte mich und bin einfach hier.“ Sie bückt sich und krault den Mops ihres ehemaligen Kollegen, der zu Besuch ist. Es riecht nach Holz und frischer Farbe.

Sabine streckt ihren Kaffee mit Wasser. Ein Neujahrsvorsatz, um ihren Koffeinkonsum zu senken und Geld zu sparen. Auf der Liege im Pausenraum der Mitarbeiter stehen zwei Kleidersäcke, groß wie Erstklässler. Tauschgeschäfte gehören hier zum Alltag wie das Zähneputzen am Morgen.

„Ich würde gerne in einer Tauschgesellschaft leben, geldunabhängig.“

Die 39-Jährige ist diplomierte Design-Ingenieurin. In der Textilindustrie könnte sie monatlich bis zu 4.200€ verdienen. Die Grundsicherung aus Erwerbsminderungsrente und Lohn ihrer Beschäftigung ist weitaus geringer. Behördengänge, Anträge und Weihnachtsgeld, von dem nach Verrechnungen nichts mehr für sie übrigbleibt, bedeuten für Sabine vor allem eins: „eine Menge Ärger“.

2010 ist sie nach Bielefeld gekommen. Während Sabine von dem mühsamen Weg dorthin berichtet, bleibt ihre „Liebe ist…“-Tasse unberührt. Offiziell in einer Behindertenwerkstatt beschäftigt zu sein? Ein Kampf mit Vorurteilen. Ein inneres Dilemma zwischen Gefühlen des Versagens und dem Wunsch, wieder zur Gesellschaft zu gehören. Und eine bürokratische Hürde.

1989 flüchtete sie mit ihrer Familie aus Polen. Wirtschaftsflüchtling zu sein ist Luxus, sagt sie. Früh erlebte Sabine familiäre Konflikte, zog sich daraufhin zurück. Ihre Eltern waren beschäftigt mit Arbeiten und Überleben. „Aber das kann ich ihnen nicht vorwerfen. Ich weiß, dass sie alles für uns getan haben“. Sie half ihren Eltern mit der deutschen Sprache, übernahm Verantwortung. Heute verhüllt ein Pullover in Übergröße den Körper einer Frau, der mehr als zehn Jahre lang mit Antidepressiva gefüttert wurde.

Mit 18 suchte sie zum ersten Mal einen Arzt auf, um über ihre „Phasen“, wie sie selbst sie nannte, zu sprechen. Er riet ihr zu autogenem Training. Kurze Zeit später dann die erste Therapieerfahrung. Sabine rollt die Augen, dann lacht sie. In ihrer ersten Sitzung folgten auf fünf Minuten Gespräch vierzig Minuten Stille. Einen Folgetermin machte sie aus, ging aber nie hin. Freunde, die wussten, dass sie sich Hilfe sucht, unterstützen sie. Aus Verantwortungsgefühl ihnen gegenüber schloss Sabine ihr Studium ab. Als sie von ihrem Studentenjob im Einzelhandel erzählt, streicht sich Sabine das türkis-gefärbte Pony aus dem Gesicht, sie spricht schnell und angeregt. Ein Schmunzeln weicht dabei nicht von ihren Lippen. Für eine Festanstellung dort ist sie überqualifiziert. Jobs in der Textilbranche sind gut bezahlt, machen sie aber nicht glücklich.

In der Werkstatt fühlt Sabine sich akzeptiert. Hat Begegnungen auf einer tieferen Ebene durch das geteilte Schicksal einer Erkrankung. Es wird gelacht, sich ausgetauscht und gegenseitig unterstützt. Die wirtschaftlichen Nachteile, die Sabine durch ihre Beschäftigung in der Werkstatt spürt, gleichen sich auf sozialer Ebene aus. Sie kann sie selbst sein.

Am 01.01.2020 sind Neuerungen des Bundesteilhabegesetzes eingetreten: Betroffenen soll mehr Selbstständigkeit, mehr Unabhängigkeit eingeräumt werden. Gerhard Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW, spricht von einer Wiederbemächtigung als Behandlungsziel sowie einem Streben nach Ausgestaltung von Behandlungen, die den Betroffenen selbst mehr Verantwortung geben.

Für Sabine bedeuten die Neuerungen unter anderem: Kostenloses Essen in der Kantine oder Selbstversorgung ohne finanzielle Unterstützung. „Fakt ist, dass man aus der Geldnot quasi dazu geleitet wird, Kantinenessen zu konsumieren und keine faire Entscheidungsfreiheit hat.“ Sie wünscht sich mehr Teilhabe und Sensibilisierung, weniger Bevormundung.

Vereine und Inklusionsunternehmen wie der „gut aufgehoben e.V.“ haben sich die Beschäftigung von Menschen mit seelischer Beeinträchtigung zum Ziel gemacht haben. Dabei sollen ihnen individuelle Rahmenbedingungen und eine faire Behandlung geboten werden, finanziell wie menschlich.

Sabine ist voller Hoffnung durch dieses Umdenken. Sie hat viele kreative Ideen. Ob sie diese in Zukunft in Bethel, an einem anderen Ort oder überhaupt realisiert wird, weiß sie noch nicht.

„Es kann sein, dass ich irgendwann ein Konzept finde, was zu mir passt.“

Fotos: Klara Hofmann

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